Über Erwatungen

 

Am 18. September 2024 senkte die US-Notenbank FED erstmals seit dem Jahr 2020 wieder ihren Leitzins. Dieser Schritt wurde vom Markt erwartet. Die meisten rechneten mit einer Zinssenkung von 0.25 Prozentpunkten. Mit 0.5 Prozentpunkten übertraf die FED die Erwartungen. Die Folge: Der breite amerikanische Aktienindex S&P 500 reagierte positiv und stieg noch am gleichen Tag um 1.7%. Wie und warum beeinflussen Erwartungen die Börse so stark?

Um zu verstehen, warum Erwartungen die Finanzmärkte auf unterschiedliche Weise stark beeinflussen können, lohnt sich ein Blick auf die verschiedenen Ansätze zur Bestimmung des fairen Preises eines Finanzinstruments wie z.B. einer Aktie. In Wissenschaft und Praxis haben sich im Laufe der Jahre zahlreiche Konzepte etabliert: Die Fundamentalanalyse stellt Zahlen aus der Bilanz eines Unternehmens dem aktuellen Aktienkurs gegenüber und versucht zu ermitteln, ob der Kurs über- oder unterbewertet erscheint. Bei der technischen Analyse werden Kursmuster der Vergangenheit analysiert und daraus Schlüsse für die zukünftige Entwicklung gezogen. Doch lassen sich mit beiden Methoden wirklich seriöse Aussagen über die Attraktivität einer Aktie treffen? Vertreter der Markteffizienzhypothese gehen nämlich davon aus, dass alle verfügbaren Informationen bereits im Aktienkurs enthalten sind. Demnach wäre es auch mit den besten Analysen unmöglich, vermeintlich unterbewertete Unternehmen zu finden und um damit den Markt systematisch zu schlagen, da Aktien immer fair bewertet sein müssten. Doch Theorie und Praxis klaffen oft auseinander. So ist ein Anleger bereit, den Preis einer Aktie zu zahlen, wenn er erwartet, dass zukünftige Dividenden und Kursgewinne den Preis rechtfertigen. Technisch formuliert entspricht der heutige Aktienkurs dem Barwert aller erwarteten zukünftigen Cashflows, abdiskontiert mit dem risikolosen Zinssatz.

Dividendenzahlungen hängen von den Gewinnen der Unternehmen ab, wodurch die Fundamentalanalyse in die Bewertung einfliesst. Die technische Analyse hat ihre Berechtigung, da vergangene Ereignisse die Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer an die Zukunft prägen. Doch wie passt das zur Markteffizienzhypothese? Beide Theorien gehen davon aus, dass Anleger alle verfügbaren Informationen nutzen, um ihre Erwartungen für die Zukunft zu bilden. Anleger treffen ihre Entscheidungen häufig auf Basis ihrer persönlichen Einschätzung der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung. Dies führt dazu, dass Erwartungen über Zinsentscheidungen, Arbeitslosenzahlen und andere wirtschaftliche Einflussfaktoren bereits heute die Preise beeinflussen. Trotz aller Analysen bleibt die Zukunft unsicher. Weicht die Realität von den Erwartungen ab, kommt es oft zu heftigen Reaktionen. Diese Kursveränderungen sind nichts anderes als Anpassungen an neue Realitäten.

 

Wenn Erwartungen und Realität kollidieren

Erwartungen sind naturgemäss mit einem gewissen Grad an Unsicherheit verbunden, da in den meisten Fällen wichtige Informationen fehlen. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realität ist die Inflation. Inflationserwartungen lassen sich beispielsweise aus Staatsanleihen und Inflationsswaps ableiten. Doch was passiert, wenn die tatsächliche Inflation diese Erwartungen übertrifft? Interessant ist, dass der Aktienmarkt in den Monaten, in denen die tatsächliche Inflation über den Erwartungen lag, signifikant schlechter performt hat. Ist die Inflation höher als erwartet, befürchten die Anleger steigende Zinsen, was in der Regel zu Kursverlusten führt.

 

 

Doch wie kommt es, dass Anleger falsche Erwartungen haben? Hier kommt die Verhaltensökonomie ins Spiel, die einige psychologische Mechanismen und systematische Fehler identifiziert hat, die Anleger immer wieder machen. Beim so genannten «Verankerungseffekt» orientieren sich Anleger beispielsweise zu stark an einer bestimmten Information, oft dem ursprünglichen Kaufpreis einer Aktie oder einer früheren Marktprognose, und lassen sich von dieser «verankerten» Zahl in ihren Erwartungen beeinflussen. Ausserdem neigen Menschen dazu, Informationen zu suchen und zu bevorzugen, die ihre bereits bestehenden Meinungen oder Überzeugungen bestätigen. Gegenteilige Informationen werden ignoriert. Verhaltensökonomen sprechen hier von einem «Confirmation Bias» (Bestätigungsfehler). Besonders charakteristisch für die Finanzmärkte ist jedoch das Herdenverhalten. Es beschreibt das Phänomen, dass Anleger dazu neigen, die Entscheidungen der Masse zu kopieren, wodurch sich Erwartungen verfestigen, die bei Nichteintritt zu stärkeren Verwerfungen an den Finanzmärkten führen.

Mechanismen kennen, Chancen erkennen

Erwartungen spielen an den Finanzmärkten eine zentrale Rolle, denn an den Börsen wird die Zukunft gehandelt und damit Erwartungen über die künftige Gewinnentwicklung der Unternehmen. Wer in der Lage ist, die tatsächliche Entwicklung besser einzuschätzen als die breite Masse, hat die Chance, sich einen Vorteil zu verschaffen. Informationen sind nicht immer gleichmässig verteilt oder werden falsch interpretiert. In solchen Märkten kann man eine überdurchschnittliche Performance erzielen, wenn man besser als andere erkennt, wie sich die tatsächlichen Entwicklungen von den Erwartungen unterscheiden. Wer diese Unterschiede gut einschätzen kann, hat die Chance, profitable Entscheidungen zu treffen, bevor sich diese Informationen im Marktpreis widerspiegeln. Für Anleger bedeutet dies, dass es unerlässlich ist, sich unvoreingenommen mit makroökonomischen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Sie sollten dem Drang zum Herdenverhalten widerstehen und abweichende Einschätzungen nicht als Risiko, sondern als Chance begreifen. Nur wer den Mut hat, eigenständig zu handeln und gegebenenfalls auch gegen den Strom zu schwimmen, kann sich von der Masse abheben und langfristig eine bessere Performance erzielen.

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