Der schmale Grat

Die Notenbanken kämpfen global weiterhin entschlossen gegen die hartnäckige Inflation. Vorauslaufende Indikatoren deuten auf eine wirtschaftliche Abschwächung hin, doch die Finanzmärkte zeigen in allen wichtigen Anlageklassen nur eine Richtung, jene nach oben. Es ist Halbzeit im Börsenjahr 2023: Was erwartet die Anleger in der zweiten Jahreshälfte? Der Ausblick ist mit einer hohen Unsicherheit behaftet. Gibt es für den möglichen Verlauf Erkenntnisse aus der Vergangenheit? Klar ist: Es wird anspruchsvoller und der Grat wird schmaler.

 

Die amerikanische Notenbank macht eine Pause, signalisierte aber deutlich, dass die geldpolitische Straffung noch nicht vorüber ist. Die Europäische Zentralbank und die Schweizerische Nationalbank erhöhten ihre Leitzinsen jüngst um je 25 Basispunkte und sendeten dieselbe Botschaft aus wie die amerikanische Notenbank. Glaubt man verschiedenen vorlaufenden Konjunkturindikatoren, wird sich die wirtschaftliche Entwicklung in den kommenden Monaten deutlich abschwächen. Die Vergangenheit zeigt: Die Finanzmärkte nehmen in der Regel einen Konjunkturabschwung vorweg. Doch aktuell kennen die wichtigsten Indizes und Anlageklassen nur eine Richtung, nämlich jene nach oben. Mit dem amerikanischen Technologieindex Nasdaq 100, dem japanischen Nikkei-225-Index, dem breiteren amerikanischen Aktienindex S&P 500, dem deutschen DAX-Index oder auch dem Weltaktienmarktindex MSCI World befinden sich einige wichtige Aktienmärkte gar in einem Bullenmarkt – und dies während der stärksten geldpolitischen Straffung seit über 40 Jahren. Als Bullenmarkt bezeichnet man einen Anstieg eines Börsenindex um mindestens 20 % gegenüber seinem letzten Tiefststand. Die Tiefststände liegen im Herbst des vergangenen Jahres. Da begann die Erholung nach den starken Kurseinbrüchen im Jahr 2022. Der Swiss Market Index mit den grosskapitalisierten Unternehmen realisierte seit dem Tiefststand erst eine Performance von 11,99 %. Der SMIM-Index – der Index der mittelgross kapitalisierten Schweizer Unternehmen – liegt mit 19,93 % knapp unter der Grenze eines Bullenmarktes.

Neben den Aktienmärkten resultierte im ersten Börsenhalbjahr auch bei anderen wichtigen Anlageklassen eine erfreuliche Performance. So erzielten Obligationen CHF eine Performance von 3,6 %, was genau im langfristigen Durchschnitt liegt. Auch mit Gold (5,5 %) konnte eine positive Performance erzielt werden. Mit den Rohstoffen (–10 %) und Immobilien Schweiz (–0,4 %) liegen in diesem Börsenjahr nur zwei Anlageklasse im Minus. Wer sein Portfolio breit diversifiziert hat, reduzierte nicht nur sein Risiko, sondern profitierte in der Gesamtperformance von diesen verschiedenen Ertragsquellen.


Die Entwicklung an den Finanzmärkten ist erfreulich. Dennoch ist Vorsicht geboten. Während zu Beginn dieses Jahres die Aktienmärkte schwungvoll zulegten, zeigte sich schnell, dass dieser Aufschwung nur von wenigen Titeln getragen wurde. Die kumulierte Advance-Decline-Linie – ein Indikator, der täglich die Zahl der steigenden Aktien in einem Index addiert und die fallenden davon abzieht – zeigt eine geringe Partizipation von Unternehmen an der Aufwärtsbewegung.

Besonders eindrücklich ist dies im amerikanischen Aktienmarkt. Während die sogenannten «Magnificent Seven» Alphabet, Apple, Amazon, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla seit Jahresbeginn zusammen und gleichgewichtet um über 50 % zulegten, stieg der breite amerikanische S&P-500-Index ohne diese Werte nur um 0,37 %. Die Anlegerstimmung hellt sich zwar auf, ist aber sehr einseitig durch sehr hohe Erwartungen im Bereich der künstlichen Intelligenz getrieben. Eine abnehmende Marktbreite ist im Weltaktienindex MSCI World ersichtlich. Hier nimmt seit einigen Wochen die Anzahl der Valoren ab, die über ihrem 200-Tage-Durchschnitt handeln – ein weiterer Indikator einer fragilen Marktbreite.

 

Verschiedene wichtige Aktienmarktindizes sind gemäss Definition in einem Bullenmarkt oder nahe dran

 

Die Kerninflation liegt - mit Ausnahme der Schweiz - weiter deutlich über der 2%-Marke

 

 

Hartnäckiger Inflationsdruck bleibt

Die Anleger beschäftigen zurzeit vor allem Zins- und Konjunktursorgen. Das lässt auch keine breite Euphorie aufkommen. Diese Sorgen sind durchaus berechtigt. Zwar sind die Inflationsraten in diesem Jahr nochmals gefallen, der Rückgang ist in erster Linie
auf einen deutlichen Preisrückgang bei den Energiepreisen zurückzuführen. Die Kerninflation, bei der volatile Posten wie Energie- und Lebensmittel nicht berücksichtigt werden, liegt praktisch in allen wichtigen Volkswirtschaften der Welt deutlich über der Marke von 2 %. In den USA sind es der robuste Arbeitsmarkt und damit der anhaltende Druck auf die Löhne sowie die Ausgaben für Wohnen, welche die Inflation hartnäckig erhöht bleiben lassen. In der Eurozone kommt ein wesentlicher Treiber ebenfalls aus dem robusten Arbeitsmarkt. Sowohl in den USA als auch in der Eurozone rechnen die Notenbankmitglieder bis ins Jahr 2025 mit einer deutlich erhöhten Kerninflationsrate. Dasselbe gilt für die Schweiz. Hier spielen Zweitrundeneffekte, höhere Miet- und Strompreise, die Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie der Inflationsdruck aus dem Ausland eine preistreibende Rolle.

Auch mit der im Juni kommunizierten Leitzinserhöhung von 25 Basispunkten rechnet die Schweizerische Nationalbank bis ins Jahr 2025 mit einer (Gesamt-)Inflationsrate über der Marke von 2 %. Damit korrigiert sie ihre eigenen Inflationsprognosen gegenüber der März-Sitzung nach oben. Das war doch eine kleine Überraschung. Die Notenbanken bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen der mittelfristigen Sicherstellung von Preisstabilität und einem robusten Wirtschaftswachstum. Sowohl Jerôme Powell, Christine Lagarde als auch Thomas Jordan bekräftigten in ihren Aussagen, dass der Erreichung der Preisstabilität ein höheres Gewicht zugemessen werde.

Die Notenbanken sind gezwungen, auch im zweiten Halbjahr die Leitzinsen weiter zu erhöhen. Spannend hierbei: Sowohl Kanada als auch Australien beendeten jüngst ihre Zinspause, weil sie realisierten, dass ihre Geldpolitik nicht genügend restriktiv war, um das Angebot und die Nachfrage der Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das stellt die Voraussetzung dar, um die Inflation wieder unter die Marke von 2 % zu senken und damit Preisstabilität zu erreichen. Dieses Beispiel zeigt: Eine Trendwende reicht noch lange nicht aus, um die Inflation nachhaltig zu senken. Bei einem zu vorsichtigen Vorgehen steigt die Gefahr, dass die Inflation wie in den 1970er-Jahren über einen längeren Zeitraum überschiesst und die Notenbanken nachschärfen müssen. Das würde nicht nur den geldpolitischen Normalisierungsprozess unnötig verlängern, sondern wäre auch schlecht für die Finanzmärkte.

 

Finanzmärkte oft unbeeindruckt von Zinserhöhungen

Steigen die Zinsen, reagieren praktisch alle Anlageklassen, weil der Zins der zentrale Bewertungsfaktor in deren Preisen darstellt. Das vergangene Jahr zeigte dies sehr eindrücklich auf. Über einen kompletten Leitzinserhöhungszyklus hingegen muss per se keine negative Performance resultieren. Eine Analyse der Zinserhöhungszyklen der amerikanischen Notenbank FED in den vergangenen 30 Jahren – hier erfolgten immerhin sechs Zinserhöhungszyklen – zeigt, dass bei allen wichtigen Anlageklassen im Durchschnitt eine positive Performance resultierte. Bemerkenswert: Überdurchschnittlich schnitten Rohstoffe und Aktien ab. Die gängige Befürchtung, dass steigende Zinsen schlecht für Risikoanlagen seien, kann zumindest für die letzten dreissig Jahre nicht bestätigt werden.

Die einzelnen Performances pro Zyklus unterscheiden sich. Das ist nachvollziehbar, sind doch die ökonomischen Rahmenbedingungen sowie die Charakteristika im Erhöhungszyklus auch nie komplett dieselben. Die Performance im S&P 500 lag im Zeitraum der letzten
30 Jahre dabei zwischen 0,13 % und 39,06 %. Im aktuellen Zinserhöhungszyklus liegt die Performance des S&P 500 aktuell bei 0,01 % – und dies nach einem zwischenzeitlichen Einbruch von bis zu 19 % und einem der stärksten Zinserhöhungszyklen der Geschichte.
Einmal mehr bewahrheitet es sich, dass über den langfristigen Erfolg vielfach die Emotionen entscheiden. Wer die Nerven nicht verliert, wenn die Märkte temporär heftig nach unten korrigieren, fährt besser. Denn die Märkte vergessen relativ schnell und kehren rasch in den langfristigen Aufwärtstrend zurück. Das ist auch bei einem Vergleich mit den letzten beiden grossen Kurseinbrüchen ersichtlich. Sowohl bei der Dotcom-Blase im Jahr 2000 als auch bei der grossen Finanzkrise 2008 erholten sich die Aktienmärkte
relativ rasch und befanden sich bereits wieder in einem Aufwärtstrend, bevor dies wirklich in der Breite realisiert wurde.

Die Wirkung von Leitzinserhöhungszyklen in der Realwirtschaft benötigt in der Regel einige Zeit, um sich zu entfalten. Der genaue Zeitrahmen hängt von verschiedenen Faktoren ab und variiert von Zyklus zu Zyklus. Eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IMF) aus dem Jahr 2017 kam zum Ergebnis, dass es in den Industrieländern im Durchschnitt etwa sechs bis acht Quartale dauert, bis die Auswirkungen einer Leitzinserhöhung auf die Wirtschaft spürbar werden. Eine Erhöhung des Leitzinses führt dazu, dass sich Krediteverteuern und die Kreditnachfrage verringert wird. Dies kann wiederum zu einer Abschwächung der Investitionstätigkeit und des Konsums führen, was sich letztlich auf die gesamte Wirtschaft auswirkt und im schlimmsten Fall in einer Rezession endet.

Aktienmärkte reagieren heftig, erholen sich aber schnell wieder

 

Wie lange hält die Rally an?

Der derzeitige Zinserhöhungszyklus ist 473 Tage und damit bereits über fünf Quartale alt. Kommt nun der wirtschaftliche Abschwung und wie lange werden die jüngst gebildeten Bullenmärkte noch anhalten? Nun, aktuell zeigt sich die Konjunktur weiterhin erstaunlich robust und widerstandsfähig. So fielen auch die Gewinne im ersten Quartal erfreulich aus. Die Luft wird aber zunehmend dünner. Jüngst schreckten Meldungen von Gewinnwarnungen bei verschiedenen Unternehmen auf. Ob diese eine erste Indikation für einen breiten wirtschaftlichen Abschwung sind, ist verfrüht zu sagen und wird sich in der nun beginnenden Berichtssaison der Unternehmen zeigen.

Obwohl verschiedene vorlaufende Indikatoren auf einen wirtschaftlichen Abschwung hindeuten, gibt es auch immer positive Meldungen – gerade auch aus der US-Wirtschaft. Hier ist der Arbeitsmarkt immer noch sehr robust und das Konsumentenvertrauen erstaunlich solide. Beides sind wichtige Stützen der US Wirtschaft.

Zudem verfügen die Konsumenten immer noch über hohe Ersparnisse aus der Corona-Pandemie. Auch die Unternehmen waren in den vergangenen drei Jahren in der Lage, ihr Liquiditätspolster über die Ausweitung der Gewinnmargen auszubauen. Insgesamt stehen die Zeichen nicht schlecht für ein sogenanntes Soft-Landing, also die nachhaltige Bekämpfung der Inflation ohne Rezession. Die Notenbanken bewegen sich auf einem schmalen Grat, sind sich ihrer Verantwortung aber durchaus bewusst. Das bedeutet, dass die aktuelle Rally durchaus weiter anhalten kann, wenn auch zwischenzeitliche Korrekturen durchaus vorkommen werden. Die Nervosität an den Finanzmärkten ist hoch. Im aktuell durch eine erhöhte Unsicherheit geprägten Umfeld ist ein aktives und selektives Vorgehen gefragt. Der Fokus liegt auf Unternehmen, die solide finanziert sind, eine stabile Margenbasis ausweisen und über ein starkes Kurs-Momentum verfügen. Verlieren sie es, ist es ratsam, diese Titel wieder emotionslos zu verkaufen und auf andere zu setzen. Dieses Vorgehen bedingt eine ausgereifte, solide und langjährig bewährte Systematik in der Anlagemethodik. Genau dadurch zeichnet sich die Cronberg Anlagephilosophie aus.

 

Alessandro Sgro, Chief Investment Officer

 

 

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